Kreislauf
Case Study House Program
Von Architekturikonen lernen

Blaupause der Moderne

Catherine Hug

Von Architekturikonen lernen

Durch experimentelle Architektur zukunftsweisende, praktische und kosteneffiziente Lösungen für den Massenwohnungsbau zu entwickeln – die Ansprüche an das Case Study House Program, das kurz nach Kriegsende von der Zeitschrift „Arts & Architecture“ ins Leben gerufen wurde, waren hoch. In einer Zeit des Umbruchs entstanden so insgesamt 36 Entwürfe von teils renommierten Architekten wie Richard Neutra, Charles und Ray Eames oder Pierre Koenig. Viele von den etwa zwei Dutzend realisierten Entwürfen gelten heute als architektonische Ikonen, die neue Maßstäbe in Design und Funktionalität setzten.

ZWISCHEN DRINNEN UND DRAUSSEN LIEGT DIE FREIHEIT

So zeichnet sich das Bailey House (Case Study House #20) von Richard Neutra durch seine elegante Einfachheit, funktionale Gestaltung und die nahtlose Verbindung von Innen- und Außenräumen aus. Es gilt als Beispiel für die modernistische Architektur und Neutras Prinzipien des “biorealistischen” Designs, das die Bedürfnisse der Bewohnerschaft und deren Beziehung zur Umgebung in den Vordergrund stellt – als eine Symbiose aus Funktionalität, Schönheit und Menschlichkeit. Der niedrige Bungalow, der von der Straße aus eher bescheiden wirkt, offenbart im Innern eine ungeahnte Großzügigkeit: Ausufernde Glasflächen und Schiebetüren sowie ein offener Grundriss vermitteln ein Gefühl von Freiheit und Offenheit. Wohnund Schlafräume sind optisch wie konstruktiv mit dem Garten verbunden, was die Harmonie zwischen Mensch, Raum und Natur fördert und sich positiv auf das Wohlbefinden der Bewohnerschaft auswirkt. Auch auf deren künftige Bedürfnisse ging Neutra bereits in der Entwurfsphase ein: Die junge Familie wünschte sich ein mitwachsendes Zuhause. So war das kompakte Haus dank der Verwendung einfacher, modularer Materialien anfangs vergleichsweise kostengünstig zu haben, drei Anbauten folgten im Laufe der Jahre.

EIN NEUER UMGANG MIT DEM MATERIAL

Stahl war die Grundlage der modernen Bauweise der Case Study Houses und eröffnete völlig neue architektonische Möglichkeiten. Wie das Material die Vision eines offenen, lichtdurchfluteten und funktionalen Wohnraums unterstützt, zeigt das Stahl House von Pierre Koenig (Case Study House #22) mit seiner Stahlrahmenstruktur. Auf den Hügeln von Los Angeles thronend, wirkt es dank der von filigranen Stahlträgern getragenen Glaswände fast schwerelos, die offene Gestaltung betont derweil den Panoramablick auf die Stadt. Doch dieser und viele andere Blicke in und durch die Bauten des Case Study House Program wären nicht ohne den technologischen Fortschritt der Glasindustrie in den 1950er-Jahren möglich gewesen. Großformatige Glasflächen, im Floatglasverfahren seriell hergestellt, fügten sich nicht nur perfekt in die modulare Bauweise der Case Study Houses ein, sie waren durch die neuen Herstellungsverfahren auch kein Luxusgut mehr. Auch ins Ellwood House (Case Study House #16) brachte dieser neue, großzügige Umgang mit dem Material Tageslicht tief ins Innere und schuf eine unmittelbare Verbindung zur umgebenden Natur.

Um die technische Kühle von Stahl und Glas auszugleichen, setzten viele der Architekturschaffenden im Case Study House Program außerdem auf Holz im Innenraum. Ob als Sperrholz, Schichtholz oder Furnier – neben Kosteneffizienz und Verfügbarkeit war das natürliche Material wie kein anderes dazu in der Lage, die Brücke zwischen Tradition und Moderne zu schlagen und die Symbiose aus funktionaler, industrieller Architektur und einem menschlichen, wohnlichen Ambiente zu unterstreichen.

Technologien, die den Fortschritt bereiteten

Modularität war nicht nur eine Antwort auf die Herausforderungen der Nachkriegszeit – wie Wohnraummangel und begrenzte Ressourcen –, sondern auch ein zentraler Aspekt der architektonischen Vision, die das Case Study House Program verfolgte, und der neue Maßstab für den modernen Wohnungsbau. Um Flexibilität in der Gestaltung und Nutzung zu gewährleisten, aber auch um eine Kosteneffizienz durch Serienproduktion und reduzierte Bauzeiten zu erreichen, sollten die Gebäude aus standardisierten, vorgefertigten Bauelementen bestehen. Stahlrahmen für eine flexible Grundrissgestaltung, Holz als kostengünstiges Material für modular aufgebaute Decken und Wände sowie Glasflächen in standardisierten Größen ermöglichten so einzigartige, individuelle und veränderbare Gebäude, ohne Ressourcen zu verschwenden. Die Grundrissgestaltung, wie sie im Bailey House zu sehen ist, ermöglichte eine effiziente und flexible Nutzung der der nur 100 Quadratmeter großen Wohnfläche. Darüber hinaus wirkt das Haus dank der Offenheit der Räume und der fließenden Gestaltung zwischen Innen- und Außenräumen auch besonders großzügig – und ist prädestiniert für künftige Veränderungen. Ein Ansatz, der mehr als nur stilistisch ist: Die Case Study Houses zeigten eine neue Lebensweise auf, die Offenheit und Nachhaltigkeit förderte und den Weg für ein ganzheitliches Denken bereitete.

Weiterlesen in Trendscout